Exkurse
Roger Brinkmann
Überlegungen zur Akademieabteilung „Medizin/Anthropologie“
Für mich ist eine zentrale Frage, worin die Anknüpfungspunkte für Medizin/Anthropologie an die Europäische Kultur liegen könnten, nachdem beide eng miteinander verknüpften Disziplinen, verstanden als naturwissenschaftlich fundierte Wissenschaften von der menschlichen Natur und ihren krankhaften Erscheinungsformen, inzwischen global nach einem in Europa entwickelten Erkenntnisprinzip arbeiten. Gleichwohl ist auch bekannt, dass der Nährboden für diese Entwicklung in Europa von einer hochzivilisierten arabischen Medizin bereitgestellt wurde, die ihrerseits Anregungen aus der griechischen Antike aufgegriffen hatte. Ich werde mich in meinen weiteren Überlegungen auf die Medizin konzentrieren, in der ich mich als Arzt besser auskenne.
Könnte es sein, dass die vielfältig verzweigten Teilgebiete der somatischen Medizin inzwischen so global gültig sind, dass sich dort kein Ansatz für die oben angedeutete Frage finden lässt? Könnte es also – gewissermaßen im Ausschlussverfahren – eher so sein, dass das Gebiet der „psychischen Störungen“ und deren Behandlung am ehesten ein mit der europäischen Kultur zusammenhängendes Thema ergeben? Ich bin mir als Nervenarzt ziemlich sicher, dass Verständnis und Interpretation von der in Not geratenen Psyche eines Menschen möglicherweise in Europa erkennbar anders als in anderen Teilen der Welt mit ihren höchst unterschiedlichen Kulturen gesehen werden.
Je länger ich darüber nachdenke, welche Aspekte der Medizin oder auch der Anthropologie im Rahmen der Akademie Europäische Kultur (AEK) aufgegriffen werden könnten oder gar sollten, desto schwieriger erscheint es mir, dem schon in der Broschüre abgesteckten Rahmen der Akademie gerecht werden zu können. Und das ausgerechnet in Zeiten einer Pandemie, die praktisch jeden Menschen dazu zwingt, sich mit medizinischer Terminologie und Denkungsart auseinanderzusetzen: Was ist eigentlich ein Virus? Wie funktioniert unser Immun-System? Was bedeuten epidemiologische Daten für den Einzelnen? – Fragen über Fragen. Die Liste ließe sich hinsichtlich der medizinischen Details leicht erheblich ausweiten. Am Ende aber stünde immer die Frage, ob die europäische Kultur - wenn es im Bereich Medizin/Anthropologie überhaupt noch eine spezifische europäische Kultur gibt – anders als andere Kulturen auf die Schwierigkeiten, die uns ein (übrigens völlig kulturloses) Virus bereitet, reagiert? War es z.B. ein typisch europäischer Gedanke, der finnische Forscher schon gleich zu Beginn der Pandemie einen Impfstoff entwickeln ließ, der ohne teure Lizenzen der ganzen Welt zur Verfügung gestellt werden sollte? Dieser für einen „Wohlfahrtsstaat“ („europäischer Machart“) typische Gedanke scheiterte daran, dass die finnische Regierung die 40 Millionen für die Durchführung der für eine Zulassung notwendigen Phase-3-Studie nicht übernehmen wollte. Stattdessen kauft Finnland nun für wesentlich höhere Summen den Impfstoff, der von streng merkantil ausgerichteten Pharma-Unternehmen entwickelt wurde. Ist Gesundheit ein Geschäft wie Auto- oder Waffenhandel geworden? Wird die europäische Kultur zunehmend zu einer liberal-kapitalistischen Kultur nach dem Vorbild der USA?
Ein Blick auf die Geschichte der heute weltweit geltenden Standards der Medizin ergibt, dass deren Wiege eindeutig in Europa stand. Keine andere Kultur unseres Planeten hat jemals die anhaltend naturwissenschaftliche Grundlage für eine medizinische Wissenschaft gelegt, die inzwischen so dominant geworden ist, dass sie weltweit als alternativlos anzusehen ist. Das verhindert zwar nicht, dass gerade auch in Europa Anhänger esoterischer Heilslehren meinen, von einer ‚Alternativen Medizin’ sprechen zu dürfen. Eine echte Alternative (!) zur wissenschaftlich fundierten Medizin, die gern mit pejorativem Unterton auch als ‚Schulmedizin‘ apostrophiert wird, gibt es aber nicht. Terminologisch korrekt könnte allenfalls von ‚komplementären Heilsangeboten‘ gesprochen werden. Keines dieser komplementären Heilsangebote geht aber über den in der medizinischen Wissenschaft darstellbaren ‚Placebo-Effekt‘ hinaus.
Die inzwischen zum „gold-standard“ der ganzen Welt gewordene naturwissenschaftlich fundierte Medizin musste sich über die Jahrhunderte ihrer Entstehung gegen religiöse – in Europa also vor allen Dingen christliche, genauer gesagt: kirchliche – Einmischungen wehren. Noch heute gibt es in Europa (und auch in Deutschland) Ärzte, die z.B. die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches ablehnen, weil sie einen derartigen Eingriff als gläubige Christen moralisch nicht vertreten können. In Krankenhäusern, in denen die Kirchen oder christlich orientierte Unterorganisationen der Kirchen als Arbeitgeber auftreten, kann es sogar einem dort tätigen Arzt/Ärztin verwehrt sein, einen derartigen Eingriff – selbstverständlich im Rahmen der gültigen Gesetze – durchzuführen, obwohl er/sie dazu bereit wären. In Deutschland gibt es nicht nur hinsichtlich der Verfassung keine strenge Trennung von Staat und Religion, auch ein Laizismus der ärztlichen Berufsausübung wurde meines Wissens noch nie ernsthaft gefordert.
Hat Europa, hat die europäische Kultur eine einheitliche Antwort auf die SARS-CoV-2-Pandemie? Wohl kaum. Schon im föderalen Deutschland zerfällt der eigentlich gebotene Wille zur solidarischen Bekämpfung in wirtschaftliche-, politische- und medizinische Profilneurosen.
Dr. med. Roger Brinkmann
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
März 2021
Exkurse
Roger Brinkmann
Überlegungen zur Akademieabteilung „Medizin/Anthropologie“
Für mich ist eine zentrale Frage, worin die Anknüpfungspunkte für Medizin/Anthropologie an die Europäische Kultur liegen könnten, nachdem beide eng miteinander verknüpften Disziplinen, verstanden als naturwissenschaftlich fundierte Wissenschaften von der menschlichen Natur und ihren krankhaften Erscheinungsformen, inzwischen global nach einem in Europa entwickelten Erkenntnisprinzip arbeiten. Gleichwohl ist auch bekannt, dass der Nährboden für diese Entwicklung in Europa von einer hochzivilisierten arabischen Medizin bereitgestellt wurde, die ihrerseits Anregungen aus der griechischen Antike aufgegriffen hatte. Ich werde mich in meinen weiteren Überlegungen auf die Medizin konzentrieren, in der ich mich als Arzt besser auskenne.
Könnte es sein, dass die vielfältig verzweigten Teilgebiete der somatischen Medizin inzwischen so global gültig sind, dass sich dort kein Ansatz für die oben angedeutete Frage finden lässt? Könnte es also – gewissermaßen im Ausschlussverfahren – eher so sein, dass das Gebiet der „psychischen Störungen“ und deren Behandlung am ehesten ein mit der europäischen Kultur zusammenhängendes Thema ergeben? Ich bin mir als Nervenarzt ziemlich sicher, dass Verständnis und Interpretation von der in Not geratenen Psyche eines Menschen möglicherweise in Europa erkennbar anders als in anderen Teilen der Welt mit ihren höchst unterschiedlichen Kulturen gesehen werden.
Je länger ich darüber nachdenke, welche Aspekte der Medizin oder auch der Anthropologie im Rahmen der Akademie Europäische Kultur (AEK) aufgegriffen werden könnten oder gar sollten, desto schwieriger erscheint es mir, dem schon in der Broschüre abgesteckten Rahmen der Akademie gerecht werden zu können. Und das ausgerechnet in Zeiten einer Pandemie, die praktisch jeden Menschen dazu zwingt, sich mit medizinischer Terminologie und Denkungsart auseinanderzusetzen: Was ist eigentlich ein Virus? Wie funktioniert unser Immun-System? Was bedeuten epidemiologische Daten für den Einzelnen? – Fragen über Fragen. Die Liste ließe sich hinsichtlich der medizinischen Details leicht erheblich ausweiten. Am Ende aber stünde immer die Frage, ob die europäische Kultur - wenn es im Bereich Medizin/Anthropologie überhaupt noch eine spezifische europäische Kultur gibt – anders als andere Kulturen auf die Schwierigkeiten, die uns ein (übrigens völlig kulturloses) Virus bereitet, reagiert? War es z.B. ein typisch europäischer Gedanke, der finnische Forscher schon gleich zu Beginn der Pandemie einen Impfstoff entwickeln ließ, der ohne teure Lizenzen der ganzen Welt zur Verfügung gestellt werden sollte? Dieser für einen „Wohlfahrtsstaat“ („europäischer Machart“) typische Gedanke scheiterte daran, dass die finnische Regierung die 40 Millionen für die Durchführung der für eine Zulassung notwendigen Phase-3-Studie nicht übernehmen wollte. Stattdessen kauft Finnland nun für wesentlich höhere Summen den Impfstoff, der von streng merkantil ausgerichteten Pharma-Unternehmen entwickelt wurde. Ist Gesundheit ein Geschäft wie Auto- oder Waffenhandel geworden? Wird die europäische Kultur zunehmend zu einer liberal-kapitalistischen Kultur nach dem Vorbild der USA?
Ein Blick auf die Geschichte der heute weltweit geltenden Standards der Medizin ergibt, dass deren Wiege eindeutig in Europa stand. Keine andere Kultur unseres Planeten hat jemals die anhaltend naturwissenschaftliche Grundlage für eine medizinische Wissenschaft gelegt, die inzwischen so dominant geworden ist, dass sie weltweit als alternativlos anzusehen ist. Das verhindert zwar nicht, dass gerade auch in Europa Anhänger esoterischer Heilslehren meinen, von einer ‚Alternativen Medizin’ sprechen zu dürfen. Eine echte Alternative (!) zur wissenschaftlich fundierten Medizin, die gern mit pejorativem Unterton auch als ‚Schulmedizin‘ apostrophiert wird, gibt es aber nicht. Terminologisch korrekt könnte allenfalls von ‚komplementären Heilsangeboten‘ gesprochen werden. Keines dieser komplementären Heilsangebote geht aber über den in der medizinischen Wissenschaft darstellbaren ‚Placebo-Effekt‘ hinaus.
Die inzwischen zum „gold-standard“ der ganzen Welt gewordene naturwissenschaftlich fundierte Medizin musste sich über die Jahrhunderte ihrer Entstehung gegen religiöse – in Europa also vor allen Dingen christliche, genauer gesagt: kirchliche – Einmischungen wehren. Noch heute gibt es in Europa (und auch in Deutschland) Ärzte, die z.B. die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruches ablehnen, weil sie einen derartigen Eingriff als gläubige Christen moralisch nicht vertreten können. In Krankenhäusern, in denen die Kirchen oder christlich orientierte Unterorganisationen der Kirchen als Arbeitgeber auftreten, kann es sogar einem dort tätigen Arzt/Ärztin verwehrt sein, einen derartigen Eingriff – selbstverständlich im Rahmen der gültigen Gesetze – durchzuführen, obwohl er/sie dazu bereit wären. In Deutschland gibt es nicht nur hinsichtlich der Verfassung keine strenge Trennung von Staat und Religion, auch ein Laizismus der ärztlichen Berufsausübung wurde meines Wissens noch nie ernsthaft gefordert.
Hat Europa, hat die europäische Kultur eine einheitliche Antwort auf die SARS-CoV-2-Pandemie? Wohl kaum. Schon im föderalen Deutschland zerfällt der eigentlich gebotene Wille zur solidarischen Bekämpfung in wirtschaftliche-, politische- und medizinische Profilneurosen.
Dr. med. Roger Brinkmann
Facharzt für Neurologie und Psychiatrie
März 2021
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