Exkurse
Cornelius Neumann-Redlin
Bericht zu einer Rede von Sigmar Gabriel im Rahmen des Bremer Unternehmensforums
Die transatlantischen Beziehungen nach der US-Wahl – was erwartet uns Deutsche?
Anlässlich des 33. Bremer Unternehmerforums am 8. Dezember 2020 sprach der ehemalige Bundesaußenminister und langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel über die US-Wahl und ihre Folgen für Deutschland und Europa. Die Partner Amerikas müssten sich auch unter Präsident Biden auf einige Veränderungen einstellen, so das Fazit des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke.
Am 20. Januar 2021 wird Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Die Ära Trump wird dann beendet sein. Doch was bedeutet das für Deutschland und Europa? Können die Partner Amerikas an die Jahre unter Präsident Obama anknüpfen? Wie nachhaltig hat Trump die transatlantischen Beziehungen verändert? Und wie gehen wir Europäer um mit diesen veränderten Vereinigten Staaten? Sigmar Gabriel gab im Rahmen des 33. Bremer Unternehmerforums Antworten auf diese Fragen.
Das europäisch-amerikanische Verhältnis – so Gabriel einleitend – sei unter Donald Trump so schlecht gewesen wie noch nie zuvor. Doch auch vor dessen Präsidentschaft habe es bereits Konflikte im deutsch-amerikanischen Verhältnis gegeben: So seien die ersten Sanktionen gegen ein Erdgasgeschäft mit Russland schon 1962 erfolgt. Des Weiteren habe es Konflikte etwa über Vietnam gegeben; auch der 2. Irakkrieg oder die Lieferung der ersten Raketen im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses seien Beispiele hierfür, gerade letztere haben heftige Demonstrationen auch hier in Bremen zur Folge gehabt. Konflikte seien also nicht neu, aber – und das sei das Entscheidende – am Ende habe es immer eine gemeinsame Vorstellung von Deutschen und Amerikanern davon gegeben, wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit organisiert sein sollen. Auch habe die Sowjetunion als „gemeinsamer Gegner“ erheblich zur transatlantischen Allianz beigetragen. Und schließlich ermöglichte ein gemeinsames Interessenfundament am Ende immer das Finden von Kompromissen. Genau dies sei in den vergangenen Jahren nicht gelungen.
Doch liegt das allein an Donald Trump? Gabriel warnte davor, den noch amtierenden Präsidenten als alleinigen Grund für das abnehmende gegenseitige Verständnis anzusehen. Das sei wichtig, um sich keinen falschen Vorstellungen darüber hinzugeben, wie sich das europäisch-amerikanische Verhältnis in Zukunft entwickeln werde.
Die Welt – so Sigmar Gabriel – habe sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch verändert, und die Amerikaner hätten dies sehr viel früher gemerkt als wir. Gerade die Deutschen seien der Überzeugung gewesen, mit dem Fall der Berliner Mauer sei das Schlimmste bewältigt. Man habe nicht genau genug hingehört, wenn Amerikaner darauf hingewiesen hätten, dass sich doch Einiges verändern würde. So habe schon 1992 Henry Kissinger in einer Rede in Hamburg darauf hingewiesen, es genüge nicht, Erfolge der transatlantischen Partnerschaft in der Vergangenheit zu feiern, denn neue, unbekannte Herausforderungen erwarteten die Welt. Welche diese sein würden, wisse er nicht, aber die Achsen der Weltpolitik würden sich verändern.
Hier sah Sigmar Gabriel das entscheidende Faktum: Nach 600 Jahren einer Europazentriertheit verschöben sich die wirtschaftlichen Achsen weg von Europa, weg vom Atlantik in den Indopazifik: Dort in Asien lebe die Mehrheit der Menschen, dort werde ein Großteil des Weltsozialprodukts erwirtschaftet. China sei als Magnet präsent – ökonomisch, politisch und militärisch. Andere Mächte wie Indien und Indonesien stünden ebenfalls bereit. Die Amerikaner hätten diese Verlagerung früh gemerkt und intensiv darüber diskutiert, ob sie ihre bisherige und traditionelle Rolle in der Welt aufrechterhalten könnten, nämlich eine führende Wirtschaftsnation zu sein und zugleich weiter die „liberal order“, die Weltordnung, zu garantieren. Denn fast alles, was wir heute kennen, sei, so Gabriel, das Ergebnis US-amerikanischer Politik, etabliert seit dem 2. Weltkrieg: eine liberale Wirtschaftsordnung, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Freiheit der Seeschifffahrt …
Die Definition amerikanischer Interessen habe sich immer an der Frage orientiert, ob die Aufrechterhaltung dieser Weltordnung den Vereinigten Staaten diene. Hier habe nicht zuletzt die Erfahrung in Europa eine Rolle gespielt, immerhin habe Amerika zweimal seine Kinder in Kriege dorthin schicken müssen. Deshalb seien etwa der Marshall Fund oder die NATO entstanden – nicht aus einer Sentimentalität für Deutschland oder Europa heraus, sondern in der festen Überzeugung, dass dies im eigenen mittel- und langfristigen Interesse der Vereinigten Staaten liege. Amerika habe sich damals von der Devise leiten lassen „America in, Russians out, Germans down“: Amerika wird zur europäischen Macht, das kommunistische Russland draußen gehalten und die Deutschen unter Kontrolle. Ein verlässliches Verhältnis mit Deutschland habe garantiert, dass man sich über Europa keine Gedanken machen müsse.
Dies sei auch der Grund dafür gewesen, weshalb Amerikaner es über Jahrzehnte hinweg normal gefunden hätten, 70% der Verteidigungslasten Europas zu tragen. Man wollte gar nicht, dass Europa und insbesondere Deutschland über die damit verbundene Kontrolle allein verfügten: „Wer weiß, was wir damit machen?“, so Gabriel. Doch heute sei dieses Denken lange Vergangenheit, und es gebe zu Recht eine Diskussion darüber, warum die etwa gleich großen Volkswirtschaften Europa und USA so unterschiedlich hohe Verteidigungslasten schulterten. Diese Debatte habe nichts mit Donald Trump zu tun, so Gabriel.
Präsident Obama habe erstmals darauf hingewiesen, dass die USA eine „pazifische Nation“ seien. Seine Vorgänger hatten noch von einer „atlantischen Nation“ gesprochen. Mit dieser Neubewertung einhergegangen sei die Schlussfolgerung, dass nicht mehr Russland, sondern China und dessen Anspruch auf ökonomische Führerschaft die große Herausforderung der Zukunft sei.
Diese geopolitischen Machtverschiebungen seien der Grund für ein verändertes Verhältnis der USA zu Europa. Auch hier habe man ein Interesse daran, dass das geopolitische Gleichgewicht durch Amerika hergestellt werde, etwa im Hinblick auf die Freiheit der Seeschifffahrt. Zugleich jedoch habe Europa selbst nicht die Kapazitäten, dies sicherzustellen.
Gabriel betonte, dass Amerika mit dieser Neuakzentuierung seiner Außenpolitik zugleich ein Vakuum hinterlassen habe, etwa auf der arabischen Halbinsel und in Afghanistan. Donald Trump habe dieses Dilemma durch seine Art, Politik zu machen, noch verschärft: Erstmals wertschätzte ein US-Präsident nicht mehr die Fähigkeit der Amerikaner, Allianzen und Partnerschaften zu bilden. Das nämlich sei der große Unterschied zwischen den USA einerseits und China oder Russland andererseits: Nur die USA hätten nach 1945 die Fähigkeit gehabt, Alliierte zu schaffen und Partnerschaften zu etablieren. Es gebe keine Alliierten Russlands, keine Partner Chinas – nur Abhängige, aber keine Partner. Diese Fähigkeit, Allianzen zu schaffen, sei der entscheidende Multiplikator amerikanischer Macht gewesen, die NATO sei dafür das beste Beispiel. Donald Trump habe all das für wertlos und falsch gehalten. In seiner Vorstellung sei die Welt eine Arena, eine Kampfbahn der Starken, die sich durchsetzen. Das Problem sei, dass Xi Jinping, Putin oder Erdoğan durchaus ähnlich denken. Ein Europa, in dem 27 Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten, sei konträr zu diesem Denken Trumps. Deshalb habe dieser die EU spalten wollen und etwa den Brexit unterstützt sowie das in der EU vorhandene Spaltpotential, so in der Sicherheitspolitik (Stichwort: Baltikum), bewusst ausgenutzt, indem er etwa Polen und Balten ins Weiße Haus eingeladen habe.
Mit Joe Biden, so Sigmar Gabriel, komme nun ein amerikanischer Präsident ins Amt, der Allianzen und Partnerschaften wertschätze, wenngleich nicht aus Sentimentalität, sondern mit einem breiteren Blick auf amerikanische Interessen: Selbst ein Land wie die USA brauchen in der Welt des 21. Jahrhunderts Bündnispartner, so die Überzeugung Bidens. Das bedeute aber nicht, dass es nun für Europa ein Zurück zu den alten Zeiten geben werde, in denen sich die Europäer bei der Wahl zwischen „gar kein Risiko“ und „Risiko“ problemlos für ersteres entscheiden könnten. Deshalb werde der neue Präsident wieder in Partnerschaften investieren, zugleich jedoch die Europäer herausfordern: Europa müsse etwas in diese Partnerschaft einbringen! Einfacher werde dies in Fragen des Klimaschutzes oder etwa im Hinblick auf eine Reform der WTO, um China an den Verhandlungstisch zu bringen und faire Bedingungen in der globalisierten Wirtschaft zu verhandeln. Aber Joe Biden werde von den Europäern auch deutlich mehr Präsenz und Engagement in den Konfliktgebieten „direkt vor unserer Haustür“ verlangen – und das sei eine berechtigte Forderung, so Gabriel. Der Rückzug der Amerikaner, der schon unter Obama begonnen habe, mache Räume frei. In der internationalen Politik gebe es kein Vakuum: „Wo jemand geht, betritt jemand anderes den Raum.“ Das seien bislang der Iran gewesen, die Türkei und Russland oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate – aber eben nicht die Europäer, die keine militärische Machtprojektion hätten und diese vielleicht auch gar nicht wollten, vor allem die Deutschen. Das werde sich nun ändern müssen, so der ehemalige Bundesaußenminister: Unangenehme Fragen drohten nun, wo man künftig nicht mehr wie bisher bequem mit dem Finger auf Donald Trump zeigen könne.
Vieles in Europa würden die Europäer künftig selber klären müssen, vor allem aber ihre eigenen Angelegenheiten. Nur dann würden sie ein anerkannter Partner der Amerikaner bleiben. Dies gelte insbesondere für unsere technologischen Fähigkeiten: Im Wettbewerb mit China und den USA spiele Europa heute keine Rolle, man bringe nichts ein in die Waagschale. Nur wenn Europa über technologische Kompetenz verfüge, werde es von Amerika und China ernst genommen. Zugleich sei es von besonderer Bedeutung, dass Europa eine verlässliche Haltung zu den unterschiedlichen Herausforderungen in der Welt formuliere. Dabei müsse man unbedingt die Briten auch nach dem Brexit eng an Europa binden, etwa in Form eines europäischen Sicherheitsrates: England sei eine jahrhundertealte international respektierte Macht, die über strategische Fähigkeiten verfüge, wie sie in Europa – wenn überhaupt – nur noch die Franzosen mitbrächten. Das Ausscheiden Großbritanniens werde im Rest der Welt als ein Zeichen der Schwäche Europas angesehen: „Reich, aber schwach!“ In der Weltpolitik gelten die Europäer, so Gabriel, als die letzten Vegetarier in einer Welt der Fleischfresser: „Wenn die Briten gehen, glauben die anderen, wir seien Veganer.“
Nach allem erwarte die Europäer eine unbequeme Zukunft. Damit sei aber auch eine große Chance verbunden: In einer erneuerten Allianz mit den USA könne man europäische Interessen deutlich besser in der Welt vertreten als alleine. Das Ziel müsse eine strategische Souveränität sein, also die Möglichkeit, allein entscheiden zu können, was man wolle. Mit den Amerikanern gemeinsam könne man die Ziele besser erreichen, was wiederum auch im amerikanischen Interesse liege. Man dürfe jedoch auf der anderen Seite, so Gabriel abschließend, die amerikanischen Möglichkeiten auch nicht überschätzen: Die Wahl Bidens sei kein überwältigender Sieg gewesen, und angesichts der zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse im Senat werde es schwierig zu handeln. Limitierte Handlungsmöglichkeiten des amerikanischen Präsidenten in der Außenpolitik träfen auf kraftraubende Herausforderungen im Inneren, ein zutiefst polarisiertes Land zu einen. Zudem sei die Zukunft der Republikanischen Partei offen, und auch der linke Flügel der Demokraten werde dem neuen Präsidenten das Leben schwer machen. Deshalb seien mutige Vorschläge der Europäer gefragt. Warum solle man nicht etwa gemeinsam mit den USA eine Alternative zur Seidenstraßen-Initiative der Chinesen für Zentralasien und Afrika anbieten, um nur ein Beispiel zu nennen?
Sigmar Gabriel fasste seinen Vortrag schließlich in folgenden wenigen Worten zusammen: Mit der Wahl Bidens zum Präsidenten werde vieles einfacher, etwa wenn es darum gehe, Kompromisse zu finden, Alliierte mit Respekt zu behandeln und nicht ständig Sanktionen gegen die eigenen Partner zu erlassen. Das bedeute aber nicht, dass nun alles einfacher werde. Viele Konflikte blieben, und sie zu lösen, werde von den Europäern mindestens so viel Veränderung erfordern wie von der amerikanischen Politik. Es würden spannende Jahre werden gerade für uns Deutsche, die wir es in den vergangenen 70 Jahren relativ bequem gehabt hätten. Deutschland werde wesentlich mehr Verantwortung tragen müssen, wenn Europa sich künftig bewegen solle. Gabriel forderte eine Debatte in Deutschland über die Frage, was in der Welt los sei, was das für Europa heiße und konkret für Deutschland bedeute. In Amerika finde diese Debatte schon seit langer Zeit statt, bei uns jedoch nicht. Diese müsse nun dringend nachgeholt werden.
Cornelius Neumann-Redlin
Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände im Lande Bremen e. V.
Bremen, Dezember 2020
Exkurse
Cornelius Neumann-Redlin
Bericht zu einer Rede von Sigmar Gabriel im Rahmen des Bremer Unternehmensforums
Die transatlantischen Beziehungen nach der US-Wahl – was erwartet uns Deutsche?
Anlässlich des 33. Bremer Unternehmerforums am 8. Dezember 2020 sprach der ehemalige Bundesaußenminister und langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel über die US-Wahl und ihre Folgen für Deutschland und Europa. Die Partner Amerikas müssten sich auch unter Präsident Biden auf einige Veränderungen einstellen, so das Fazit des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke.
Am 20. Januar 2021 wird Joe Biden als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Die Ära Trump wird dann beendet sein. Doch was bedeutet das für Deutschland und Europa? Können die Partner Amerikas an die Jahre unter Präsident Obama anknüpfen? Wie nachhaltig hat Trump die transatlantischen Beziehungen verändert? Und wie gehen wir Europäer um mit diesen veränderten Vereinigten Staaten? Sigmar Gabriel gab im Rahmen des 33. Bremer Unternehmerforums Antworten auf diese Fragen.
Das europäisch-amerikanische Verhältnis – so Gabriel einleitend – sei unter Donald Trump so schlecht gewesen wie noch nie zuvor. Doch auch vor dessen Präsidentschaft habe es bereits Konflikte im deutsch-amerikanischen Verhältnis gegeben: So seien die ersten Sanktionen gegen ein Erdgasgeschäft mit Russland schon 1962 erfolgt. Des Weiteren habe es Konflikte etwa über Vietnam gegeben; auch der 2. Irakkrieg oder die Lieferung der ersten Raketen im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses seien Beispiele hierfür, gerade letztere haben heftige Demonstrationen auch hier in Bremen zur Folge gehabt. Konflikte seien also nicht neu, aber – und das sei das Entscheidende – am Ende habe es immer eine gemeinsame Vorstellung von Deutschen und Amerikanern davon gegeben, wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit organisiert sein sollen. Auch habe die Sowjetunion als „gemeinsamer Gegner“ erheblich zur transatlantischen Allianz beigetragen. Und schließlich ermöglichte ein gemeinsames Interessenfundament am Ende immer das Finden von Kompromissen. Genau dies sei in den vergangenen Jahren nicht gelungen.
Doch liegt das allein an Donald Trump? Gabriel warnte davor, den noch amtierenden Präsidenten als alleinigen Grund für das abnehmende gegenseitige Verständnis anzusehen. Das sei wichtig, um sich keinen falschen Vorstellungen darüber hinzugeben, wie sich das europäisch-amerikanische Verhältnis in Zukunft entwickeln werde.
Die Welt – so Sigmar Gabriel – habe sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dramatisch verändert, und die Amerikaner hätten dies sehr viel früher gemerkt als wir. Gerade die Deutschen seien der Überzeugung gewesen, mit dem Fall der Berliner Mauer sei das Schlimmste bewältigt. Man habe nicht genau genug hingehört, wenn Amerikaner darauf hingewiesen hätten, dass sich doch Einiges verändern würde. So habe schon 1992 Henry Kissinger in einer Rede in Hamburg darauf hingewiesen, es genüge nicht, Erfolge der transatlantischen Partnerschaft in der Vergangenheit zu feiern, denn neue, unbekannte Herausforderungen erwarteten die Welt. Welche diese sein würden, wisse er nicht, aber die Achsen der Weltpolitik würden sich verändern.
Hier sah Sigmar Gabriel das entscheidende Faktum: Nach 600 Jahren einer Europazentriertheit verschöben sich die wirtschaftlichen Achsen weg von Europa, weg vom Atlantik in den Indopazifik: Dort in Asien lebe die Mehrheit der Menschen, dort werde ein Großteil des Weltsozialprodukts erwirtschaftet. China sei als Magnet präsent – ökonomisch, politisch und militärisch. Andere Mächte wie Indien und Indonesien stünden ebenfalls bereit. Die Amerikaner hätten diese Verlagerung früh gemerkt und intensiv darüber diskutiert, ob sie ihre bisherige und traditionelle Rolle in der Welt aufrechterhalten könnten, nämlich eine führende Wirtschaftsnation zu sein und zugleich weiter die „liberal order“, die Weltordnung, zu garantieren. Denn fast alles, was wir heute kennen, sei, so Gabriel, das Ergebnis US-amerikanischer Politik, etabliert seit dem 2. Weltkrieg: eine liberale Wirtschaftsordnung, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Freiheit der Seeschifffahrt …
Die Definition amerikanischer Interessen habe sich immer an der Frage orientiert, ob die Aufrechterhaltung dieser Weltordnung den Vereinigten Staaten diene. Hier habe nicht zuletzt die Erfahrung in Europa eine Rolle gespielt, immerhin habe Amerika zweimal seine Kinder in Kriege dorthin schicken müssen. Deshalb seien etwa der Marshall Fund oder die NATO entstanden – nicht aus einer Sentimentalität für Deutschland oder Europa heraus, sondern in der festen Überzeugung, dass dies im eigenen mittel- und langfristigen Interesse der Vereinigten Staaten liege. Amerika habe sich damals von der Devise leiten lassen „America in, Russians out, Germans down“: Amerika wird zur europäischen Macht, das kommunistische Russland draußen gehalten und die Deutschen unter Kontrolle. Ein verlässliches Verhältnis mit Deutschland habe garantiert, dass man sich über Europa keine Gedanken machen müsse.
Dies sei auch der Grund dafür gewesen, weshalb Amerikaner es über Jahrzehnte hinweg normal gefunden hätten, 70% der Verteidigungslasten Europas zu tragen. Man wollte gar nicht, dass Europa und insbesondere Deutschland über die damit verbundene Kontrolle allein verfügten: „Wer weiß, was wir damit machen?“, so Gabriel. Doch heute sei dieses Denken lange Vergangenheit, und es gebe zu Recht eine Diskussion darüber, warum die etwa gleich großen Volkswirtschaften Europa und USA so unterschiedlich hohe Verteidigungslasten schulterten. Diese Debatte habe nichts mit Donald Trump zu tun, so Gabriel.
Präsident Obama habe erstmals darauf hingewiesen, dass die USA eine „pazifische Nation“ seien. Seine Vorgänger hatten noch von einer „atlantischen Nation“ gesprochen. Mit dieser Neubewertung einhergegangen sei die Schlussfolgerung, dass nicht mehr Russland, sondern China und dessen Anspruch auf ökonomische Führerschaft die große Herausforderung der Zukunft sei.
Diese geopolitischen Machtverschiebungen seien der Grund für ein verändertes Verhältnis der USA zu Europa. Auch hier habe man ein Interesse daran, dass das geopolitische Gleichgewicht durch Amerika hergestellt werde, etwa im Hinblick auf die Freiheit der Seeschifffahrt. Zugleich jedoch habe Europa selbst nicht die Kapazitäten, dies sicherzustellen.
Gabriel betonte, dass Amerika mit dieser Neuakzentuierung seiner Außenpolitik zugleich ein Vakuum hinterlassen habe, etwa auf der arabischen Halbinsel und in Afghanistan. Donald Trump habe dieses Dilemma durch seine Art, Politik zu machen, noch verschärft: Erstmals wertschätzte ein US-Präsident nicht mehr die Fähigkeit der Amerikaner, Allianzen und Partnerschaften zu bilden. Das nämlich sei der große Unterschied zwischen den USA einerseits und China oder Russland andererseits: Nur die USA hätten nach 1945 die Fähigkeit gehabt, Alliierte zu schaffen und Partnerschaften zu etablieren. Es gebe keine Alliierten Russlands, keine Partner Chinas – nur Abhängige, aber keine Partner. Diese Fähigkeit, Allianzen zu schaffen, sei der entscheidende Multiplikator amerikanischer Macht gewesen, die NATO sei dafür das beste Beispiel. Donald Trump habe all das für wertlos und falsch gehalten. In seiner Vorstellung sei die Welt eine Arena, eine Kampfbahn der Starken, die sich durchsetzen. Das Problem sei, dass Xi Jinping, Putin oder Erdoğan durchaus ähnlich denken. Ein Europa, in dem 27 Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten, sei konträr zu diesem Denken Trumps. Deshalb habe dieser die EU spalten wollen und etwa den Brexit unterstützt sowie das in der EU vorhandene Spaltpotential, so in der Sicherheitspolitik (Stichwort: Baltikum), bewusst ausgenutzt, indem er etwa Polen und Balten ins Weiße Haus eingeladen habe.
Mit Joe Biden, so Sigmar Gabriel, komme nun ein amerikanischer Präsident ins Amt, der Allianzen und Partnerschaften wertschätze, wenngleich nicht aus Sentimentalität, sondern mit einem breiteren Blick auf amerikanische Interessen: Selbst ein Land wie die USA brauchen in der Welt des 21. Jahrhunderts Bündnispartner, so die Überzeugung Bidens. Das bedeute aber nicht, dass es nun für Europa ein Zurück zu den alten Zeiten geben werde, in denen sich die Europäer bei der Wahl zwischen „gar kein Risiko“ und „Risiko“ problemlos für ersteres entscheiden könnten. Deshalb werde der neue Präsident wieder in Partnerschaften investieren, zugleich jedoch die Europäer herausfordern: Europa müsse etwas in diese Partnerschaft einbringen! Einfacher werde dies in Fragen des Klimaschutzes oder etwa im Hinblick auf eine Reform der WTO, um China an den Verhandlungstisch zu bringen und faire Bedingungen in der globalisierten Wirtschaft zu verhandeln. Aber Joe Biden werde von den Europäern auch deutlich mehr Präsenz und Engagement in den Konfliktgebieten „direkt vor unserer Haustür“ verlangen – und das sei eine berechtigte Forderung, so Gabriel. Der Rückzug der Amerikaner, der schon unter Obama begonnen habe, mache Räume frei. In der internationalen Politik gebe es kein Vakuum: „Wo jemand geht, betritt jemand anderes den Raum.“ Das seien bislang der Iran gewesen, die Türkei und Russland oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate – aber eben nicht die Europäer, die keine militärische Machtprojektion hätten und diese vielleicht auch gar nicht wollten, vor allem die Deutschen. Das werde sich nun ändern müssen, so der ehemalige Bundesaußenminister: Unangenehme Fragen drohten nun, wo man künftig nicht mehr wie bisher bequem mit dem Finger auf Donald Trump zeigen könne.
Vieles in Europa würden die Europäer künftig selber klären müssen, vor allem aber ihre eigenen Angelegenheiten. Nur dann würden sie ein anerkannter Partner der Amerikaner bleiben. Dies gelte insbesondere für unsere technologischen Fähigkeiten: Im Wettbewerb mit China und den USA spiele Europa heute keine Rolle, man bringe nichts ein in die Waagschale. Nur wenn Europa über technologische Kompetenz verfüge, werde es von Amerika und China ernst genommen. Zugleich sei es von besonderer Bedeutung, dass Europa eine verlässliche Haltung zu den unterschiedlichen Herausforderungen in der Welt formuliere. Dabei müsse man unbedingt die Briten auch nach dem Brexit eng an Europa binden, etwa in Form eines europäischen Sicherheitsrates: England sei eine jahrhundertealte international respektierte Macht, die über strategische Fähigkeiten verfüge, wie sie in Europa – wenn überhaupt – nur noch die Franzosen mitbrächten. Das Ausscheiden Großbritanniens werde im Rest der Welt als ein Zeichen der Schwäche Europas angesehen: „Reich, aber schwach!“ In der Weltpolitik gelten die Europäer, so Gabriel, als die letzten Vegetarier in einer Welt der Fleischfresser: „Wenn die Briten gehen, glauben die anderen, wir seien Veganer.“
Nach allem erwarte die Europäer eine unbequeme Zukunft. Damit sei aber auch eine große Chance verbunden: In einer erneuerten Allianz mit den USA könne man europäische Interessen deutlich besser in der Welt vertreten als alleine. Das Ziel müsse eine strategische Souveränität sein, also die Möglichkeit, allein entscheiden zu können, was man wolle. Mit den Amerikanern gemeinsam könne man die Ziele besser erreichen, was wiederum auch im amerikanischen Interesse liege. Man dürfe jedoch auf der anderen Seite, so Gabriel abschließend, die amerikanischen Möglichkeiten auch nicht überschätzen: Die Wahl Bidens sei kein überwältigender Sieg gewesen, und angesichts der zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse im Senat werde es schwierig zu handeln. Limitierte Handlungsmöglichkeiten des amerikanischen Präsidenten in der Außenpolitik träfen auf kraftraubende Herausforderungen im Inneren, ein zutiefst polarisiertes Land zu einen. Zudem sei die Zukunft der Republikanischen Partei offen, und auch der linke Flügel der Demokraten werde dem neuen Präsidenten das Leben schwer machen. Deshalb seien mutige Vorschläge der Europäer gefragt. Warum solle man nicht etwa gemeinsam mit den USA eine Alternative zur Seidenstraßen-Initiative der Chinesen für Zentralasien und Afrika anbieten, um nur ein Beispiel zu nennen?
Sigmar Gabriel fasste seinen Vortrag schließlich in folgenden wenigen Worten zusammen: Mit der Wahl Bidens zum Präsidenten werde vieles einfacher, etwa wenn es darum gehe, Kompromisse zu finden, Alliierte mit Respekt zu behandeln und nicht ständig Sanktionen gegen die eigenen Partner zu erlassen. Das bedeute aber nicht, dass nun alles einfacher werde. Viele Konflikte blieben, und sie zu lösen, werde von den Europäern mindestens so viel Veränderung erfordern wie von der amerikanischen Politik. Es würden spannende Jahre werden gerade für uns Deutsche, die wir es in den vergangenen 70 Jahren relativ bequem gehabt hätten. Deutschland werde wesentlich mehr Verantwortung tragen müssen, wenn Europa sich künftig bewegen solle. Gabriel forderte eine Debatte in Deutschland über die Frage, was in der Welt los sei, was das für Europa heiße und konkret für Deutschland bedeute. In Amerika finde diese Debatte schon seit langer Zeit statt, bei uns jedoch nicht. Diese müsse nun dringend nachgeholt werden.
Cornelius Neumann-Redlin
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